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Mitnahmeeffekte

Wer nimmt denn hier nun wen mit?

Eine Veränderung steht an. In ihrem Unternehmen an sprechen Sie mit der Geschäftsleitung und den Führungskräften darüber. Schnell wird deutlich, dass das, was Sie da vorhaben, als zu viel, zu mächtig, ganz schön heftig bis hin zu existenzgefährdend bezeichnet wird.

Widerstand ist programmiert – Aufregung und die Nervosität ziehen in den Führungszirkeln ein.

Nach über zwanzig Jahren Erfahrung in Veränderungsprojekten kann ich Ihnen garantieren, dass in diesen Gespräche sehr früh ein Satz fällt – und alle, wirklich alle dazu heftig nicken werden. Der Satz lautet: „Wir müssen darauf achten, dass wir die Mitarbeiter mitnehmen.“

 

Veränderung im Unternehmen: Das Mantra

Der Satz ist zum Mantra des Change-Managements geworden. Davon gibt es auch einige Variationen wie „wir müssen alle ins Boot bekommen“ oder „wir müssen die Mitarbeiter richtig abholen“.

Über die Jahre ist die Bereitschaft, diesem Mantra zu folgen, und auch der Aufwand, der für seine Umsetzung getrieben wird, erheblich gewachsen. Heute wird eine Menge Betriebsamkeit verbreitet, um Akzeptanz bei den Mitarbeiter zu erzeugen. Die Unternehmen nehmen teils große Budgets in die Hand, um ausgefeilte Kommunikationskampagnen, teure Agenturen zu beschäftigen – ganze Beraterzweige damit am Leben gehalten.

Doch wenn ich mir die Ergebnisse dieser Bemühungen betrachte, kann ich nur eines sagen: Change-Projekte sind dadurch nicht erfolgreicher geworden.

 

Veränderung im Unternehmen: Die Vorstellung

Dem Mantra – und überhaupt den Vorstellungen zu Change-Management, zum Managen von Veränderungen – liegt ein in die Jahre gekommenes Bild zugrunde: Danach gibt es im Unternehmen die Schiffsbrücke und den Maschinenraum. Und die, die auf der Brücke stehen, wissen, wo vorne ist und wo es hingehen soll, während die im Maschinenraum das nicht wissen. Alle haben inzwischen verstanden, dass die, die im Maschinenraum arbeiten, wahnsinnig wichtig sind – sowohl für den Erfolg des Unternehmens als auch für den Erfolg der Change-Maßnahme. Und deshalb müssen sie mitgenommen werden.

Bei aller Wertschätzung definiert sich dieses Bild über den Unterschied: Es gibt die, die mitnehmen, und die, die mitgenommen werden. Das ist die Grundannahme.

Die ist vielleicht nicht einmal falsch, aber Sie sollten sich bewusst sein, was dieses Bild mit den Beteiligten macht.

 

Veränderung im Unternehmen: erst mal zurücklehnen

Alle, von denen es heißt, „sie würden jetzt ins Boot geholt“, – Mitarbeiter wie Führungskräfte – sagt dieses Bild: ‚Du bist aktuell nicht in diesem Boot. Und du bist auf unsere Bereitschaft angewiesen, dich in dieses Boot zu holen. Sie sind in diesem Spiel die Passiven. Die, die warten, was mit ihnen passiert.

Das Bild triggert in ihnen genau das Verhalten, das sich Unternehmer und Geschäftsleitung so gar nicht wünschen: Zurücklehnen, Arme-Verschränken und Meckern. Ich kann jede Unternehmensleitung verstehen, die auf so ein Verhalten irgendwann genervt reagiert, patzig oder trotzig wird. Gerade wenn sie sich bemüht und einen großen Aufwand betrieben hat, um die Leute „mitzureißen“.

Das ist aber nicht das einzige Unheil, dass das Mantra des Mitnehmens auslöst.

 

Veränderung im Unternehmen: Die Lernblockade

Wenn Sie sich bei Ihrem Umgang mit Change auf das Mitnehmen fokussieren, schaffen Sie sich im Unternehmen Blockaden. Die Gefahr ist groß, dass Sie Situationen verwechseln. Wenn zum Beispiel in einem neuen Prozess etwas nicht funktioniert oder die Mitarbeiter aus ihrer Arbeitserfahrung heraus kritische Fragen zur Umsetzung der Veränderung stellen, nehmen Sie das als Zeichen von: „Wir haben die nicht richtig mitgenommen.“

Statt das Problem oder die Fragen als relevanten Lernschritt zu verstehen, machen Sie sich Gedanken darüber, was in dieser Abteilung los ist und dass die Führungskraft es wohl nicht geschafft hat, ihre Leute ins Boot zu holen. Und wenn es danach in der Abteilung nicht besser wird, werden die Mitarbeiter dort als widerständig und veränderungsunfähig einsortiert.

Das übermächtige Mantra verhindert, dass Sie darüber reden, was inhaltlich nicht passt. Sie wechseln sofort auf die persönliche Ebene. So lernt Ihre Organisation nichts.

 

Veränderung im Unternehmen: Das Verständnisproblem

„Mitnehmen“, „Abholen“, „ins Boot holen“ – diese Wörter sind Container-Wörter, also leere Behälter, in die jeder hineinkippen kann, was er für richtig hält. Sie sind zwar sehr gut eingeübt – so gut, dass alle davon ausgehen, dass sie sich über die Bedeutung nicht absprechen müssen.

Aber das Verständnis ist schon unter Führungskräften komplett unterschiedlich: Während es für den einen bedeutet, getroffene Entscheidungen durch gute Kommunikation nachvollziehbar zu machen, versteht der andere darunter, die Mitarbeiter schon im Vorfeld in die Entscheidungsfindung einzubeziehen.

Und was „Mitnehmen“ für die Mitarbeiter bedeutet, steht nochmals auf einem anderen Blatt. Verstehen sie unter „Mitnehmen“ und „Beteiligen“ zum Beispoiel auch „Mitwirken“ und werden dann in ihrer Erwartung enttäuscht, reagieren sie sauer. Auch haben Mitarbeiter ihren eigenen Bedarf an Kommunikation. Der betrifft meist die Auswirkung der Veränderung auf ihren ganz konkreten Arbeitsalltag und ihre Arbeitsplatzsicherheit. Wird dieser Bedarf nicht gedeckt, fühlen sie sich „schlecht informiert“, selbst wenn die Unternehmensleitung viel Geld in eine professionelle Hochglanz-Kommunikationskampagne gesteckt hat.

Sie sehen: Das Mantra des Mitnehmens ist problematisch. Verzichten können und sollten Sie auf das Mitnehmen an sich aber nicht. Ich empfehle Ihnen stattdessen drei Fragen, die Sie sich zu jedem Veränderungsprojekt aufs Neue stellen sollten: Wer nimmt denn eigentlich wen mit? Wer will wie mitgenommen werden? Und: Wo docken unsere Veränderungsprojekte an?

1. Wer nimmt wen mit?

Wenn Sie formal auf der Kommandobrücke stehen, heißt das noch lange nicht, dass es sinnvoll ist, dass Sie bei jedem einzelnen Veränderungsprojekt ebenfalls dort stehen. Schauen Sie sich jedes Projekt an und fragen Sie sich: Sollte ich es sein, der die anderen mitnimmt, oder bin ich derjenige, der sich mitnehmen lassen sollte? Vielleicht weiß zum Beispiel der Vertrieb mehr über die aktuellen Kundenbedürfnisse als Sie. Dann sollten Sie die Verantwortung für das Projekt einer Führungskraft aus der Abteilung oder auch einem geeigneten Mitarbeiter übergeben.

Überlegen Sie sich nur bitte vorab, ob Sie es auch aushalten, sich mitnehmen zu lassen. Halten Sie es nicht aus, dann lassen Sie es lieber – Sie machen mehr kaputt als Sie gewinnen.

2. Wer will wie mitgenommen werden?

Klären Sie, welchen „Mitnahme-Bedarf“ Ihre Mitarbeiter wirklich haben.

Häufig machen sich ganze Abteilungen, wie die interne Kommunikation, HR oder auch eine Agentur viele gut gemeinte Gedanken darüber, wie Sie die Veränderung argumentieren und wie Sie sie strategisch untermauern können –Kampagnendenken eben. Das hat aber nicht unbedingt etwas mit dem Bedarf zu tun. Mitarbeiter wollen in der Regel eher Orientierung für ihren Alltag haben, die wollen wissen, was morgen anders wird, ob sie noch gebraucht werden und ob sie noch mitkommen.

Dazu kommt, dass viele Veränderungen zwar für das Unternehmen eine große Chance darstellen. Bestimmte Zielgruppen im Unternehmen aber müssen dafür eine Kröte schlucken. Die fühlen sich getäuscht vor, wenn in der Kampagne nur über die Vorteile des Unternehmens geredet wird, nicht aber über das, was für sie unangenehm wird.

Lassen Sie das Kampagnendenken weg und fragen Sie Ihre Leute, was sie brauchen, um sich mitgenommen zu fühlen.

3. Wo docken Sie Ihre Veränderungsprojekte an?

Achten Sie darauf, dass Ihre Veränderungsprojekte ganz konkret bei Arbeitsprozessen ansetzen anstatt von Ihren Mitarbeitern zu erwarten, dass sie sich an etwas halten, was Sie ihnen vorsetzen. Beispiel: Sie führen ein CRM-System ein und bemühen sich, Ihre Mitarbeiter im Vertrieb durch Schulungen oder Sanktionen dazu zu bekommen, das Ding zu benutzen.

In IT-Projekten wird das oft schon so aufgesetzt, dass durch Key-User und die Mitarbeiter möglichst früh in die Bedarfsermittlung einbezogen werden. Diesen Ansatz können Sie jedoch auch in anderen Bereichen fahren, in dem Sie die Problemstellung, die die Arbeitspraxis bietet, zum Ausgangspunkt eines Veränderungsprojektes nehmen statt hinterher ein Erziehungsprojekte daraus zu machen.

 

Stellen Sie die Schallplatte weg!

Es geht mir also gar nicht darum, Ihnen zu sagen, dass Sie Ihre Leute nicht „mitnehmen“, „abholen“ oder auch schulen sollen, damit Sie Ihre Veränderungsprojekte erfolgreicher bewältigen. Ich möchte Sie nur ermutigen, die Schallplatte mit dem Mitnahme-Mantra nicht reflexartig immer und immer wieder aufzulegen. Stellen Sie sie in den Schrank und klopfen Sie jedes einzelne Ihrer Veränderungsprojekte auf die drei Fragen ab. Dann haben Sie auch etwas davon.