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Die kurzen und der lange Hebel

Achtung – es folgt einer der Sätze, die ein Chef besser nicht über seinen Mitarbeiter verlieren sollte:

 „Muss man den Mann eigentlich immer an die Hand nehmen, wenn er was tun soll?“

Spricht er und sitzt in diesem Moment im Büro der Personalleitung und besticht in erster Linie durch fortwährendes Kopfschütteln.

Und es geht weiter: „Wegen jedem Kleinkram kommt er zu mir. Er schickt nichts raus, ohne mich vorher zu fragen, ob er das so machen kann?“

Weiter resümiert er: „Offensichtlich will er keine Verantwortung übernehmen.“

Und zu den Sack: „Er kann es einfach nicht.“, ein Chef-Wort mit Nachdruck.

Und im Geiste haben beide auf die Personalakte des Mitarbeiters das rote Etikett geklebt – man hätte auch gleich drauf schreiben können:

‚Der funktioniert nicht.‘ – Deckel zu.

 

Etikettenausgabe

In Unternehmen wird gerne und gar nicht selten mit solchen Etiketten gearbeitet, für einzelne Mitarbeiter wie für ganze Gruppen. Deren Wortlaut kann variieren: Mal steht da ‚die im Vertrieb wollen überhaupt nicht mitziehen‘, mal sehr persönlich ‚Frau X ist geistig maximal unflexibel‘ oder ‚der Service denkt einfach nicht über den Tellerrand‘.

Gerne bei Führungskräften genommen – und immer mit Bedauern in der Stimme: „Ich würde ja sehr gerne hier anders arbeiten – aber das geht mit meinen Leuten einfach nicht.“

Die Etikettierung durch die Hintertür beobachte ich in den letzten Jahren immer häufiger. Da kommen aus der Abteilung Unternehmensentwicklung wohlklingende Aufrufe wie „Wir wollen initiativ sein“ oder „Wir sind innovativ“ – vergessen wird dabei, dass das im Umkehrschluss heißt.

„Liebe Mitarbeiter, Ihr seid weder innovativ noch zeigt Ihr Initiative.“

Egal – was auch auf dem Etikett steht: Es gibt exakt zwei Schlussfolgerungen.

 

Lauf ins Leere

Die eine Folgerung läuft darauf hinaus, dass bei diesem Mitarbeiter oder bei dieser Gruppe Hopfen und Malz verloren ist – weil die so sind, wie sie sind, und sich daran auch nichts ändern lässt. Also muss man wohl damit leben. Sowohl der Vorgesetzte mit seiner Führungsarbeit als auch die Personalabteilung mit der Entwicklungsarbeit ist dann raus.

Die zweite mögliche Folge ist: Die Führungskraft gibt den defizitären Mitarbeiter bei der Personalabteilung zur Reparatur ab.

Diese schickt Herrn Y dann z.B. auf ein Entscheidungsfindungsseminar, damit er endlich selbstständiger handeln lernt.

Kurios ist dann schon sehr häufig, dass Herr Y bei sich im Ort Kommandant der Freiwilligen Feuerwehr ist und im Ernstfall jede Menge Entscheidungen trifft. Er hat in Eigenregie sein Haus gebaut. Und – man glaubt es kaum – er erzieht auch noch seine Kinder – ganz selbständig.

Aber – er hat nun mal ein Etikett von seinen Vorgesetzten bekommen – aus der Nummer kommt er erst mal nicht raus.

 

Bequeme Frustnummer

Für Herrn Y ist das Seminar eine einzige Frustnummer. Danach kennt er alle Fachbegriffe und wichtige Entscheidungsfindungsmethoden – und weiß, dass er dennoch nicht anders handeln kann. Denn es ist in seinem Unternehmen einfach nur klug, sich bei jedem Schritt abzusichern. Denn wie die Verantwortlichkeiten wirklich verteilt sind, ist seit Jahren ungeklärt.

Es ist ziemlich leicht und bequem, sich über einzelne Spieler einer Mannschaft zu beschweren, wenn es nicht läuft. Aber wenn Sie nicht auch das Spielfeld und die Taktik mitbetrachten, dann greifen Ihre Lösungsansätze oft zu kurz.

Denn bei genauerem Hinsehen stellt sich ganz oft heraus: Ein Mitarbeiter verhält sich im Unternehmen nicht so, weil er eben so ist oder nicht anders kann. Er verhält sich so, weil er damit in seinem Laden gut bedient ist. Dieses Verhalten ist antrainiert.

Jede Entwicklungsmaßnahme, die nur am individuellen Verhalten ansetzt, kann deshalb nur der kurze Hebel sein. Deshalb stößt auch die Personalabteilung mit ihren Möglichkeiten sehr schnell an Grenzen. Den langen Hebel muss man woanders ansetzen.

 

Im Kontext anders

So wie Herr Y können Mitarbeiter oft nicht anders handeln: Der Kontext, also die Bedingungen in diesem Unternehmen, lässt es nicht zu.

Wenn der Abteilungsleiter Einkauf und der Vertriebschef sich nicht mehr an einen Tisch setzen, weil es spätestens ab der zweiten Minute erbitterten Streit gibt, dann ist es gut möglich, dass ein Training für Konfliktmoderation daran auch nichts ändert. Vielleicht unterhalten sich die beiden am Abend an der Bar des Seminarhotels sogar ganz prächtig und können sich sogar vorstellen, mal zusammen Tennis zu spielen. Doch sobald sich die Tür des Besprechungszimmers hinter ihnen schließt, gehen die beiden wieder aufeinander los. Die in der Organisation verankerte Rivalität der beiden Bereiche lässt gar nicht zu, dass sie das umsetzen, was sie über Kompromisse und gegenseitiges Verständnis gelernt haben.

Oder wenn die Teamleiterin in der Ambulanten Pflege schon wieder weit nach Schichtende die Zentrale verlässt – und die Kollegen am Morgen murren, dass der Dienstplan für nächste Woche trotzdem noch nicht vorliegt: Wahrscheinlich hilft es nicht, ihr die Aufgabenfunktion von Outlook noch einmal erklären zu lassen. Zumindest solange es die Vorschrift gibt, dass die oberste Chefin alle Dienstpläne persönlich abzeichnet. Die schaut seit einem Jahr wegen des rasanten Wachstums der Firma nur noch höchstens jeden dritten Tag vorbei.

 

Ein lebendes Objekt

Ich sage nicht, dass der lange Hebel immer in der Organisation zu finden ist. Er ist es nur viel zu oft. Das System Unternehmen ist wie ein Organismus: Jeder Akteur ist eng mit vielen andere Akteuren verbunden, sie alle gemeinsam bewegen sich in und durch gegebene Strukturen. Und ihr Auftreten ist sehr viel mehr von dem System, vom Handlungsrahmen geprägt als von den individuellen Verhaltenspräferenzen.

Wenn Sie einen Schmerz im Unternehmen spüren und nur den einen Akteur behandeln, geht dieser Schmerz im besten Fall vorübergehend weg: Denn Sie bekämpfen nur ein Symptom, nicht den Auslöser. Nach dem suchen Sie ja nicht einmal mehr, wenn Sie diesem Akteur das Etikett „defizitär“ verpasst haben. So kaschieren Sie die Schmerzquelle und sie verlängern sogar den Schmerz – das nennt man dann Chronifizierung.

 

Festgeklebt

Das Gefährliche an Etiketten ist, dass sie richtig gut kleben bleiben: Hat ein Mitarbeiter oder eine Abteilung erst einmal eines verpasst bekommen, ist es schwer, es wieder loszuwerden. So ein Etikett unterbindet jede weitere Diskussion, und die, die das Etikett ausgestellt haben, werden ja immer wieder bestätigt, wenn alle Maßnahmen, an dem bemängelten Verhalten etwas zu ändern, ins Leere laufen.

Deshalb ist es auf jeden Fall lohnend, dass Sie darüber nachdenken, ob es etwas in Ihrer Organisation gibt, was das gewünschte Verhalten verhindert, bevor Sie zu Etiketten greifen.

Die Feststellung „Die übernehmen einfach nicht genug Verantwortung!“ muss dann nämlich anders lauten. Die richtige Schlussfolgerung wäre: „Die können bei uns keine Verantwortung übernehmen.“

So haben Sie viel eher die Chance, den langen Hebel zu entdecken und den dann auch umzulegen.