Search

04_23_Wertschätzung_CH01_LangT_Quadrat

Süßes Gift

Wertschätzung – ein Schlagwort hat Hochkonjunktur. Jedenfalls kommt meiner Beobachtung nach kaum eine Firmenverlautbarung ohne „Wertschätzung“ aus. Und in jeder noch so diffusen Erhebung zur Arbeitgeberattraktivität finden Sie ihn auch.

Wenn Sie dieser Welle Glauben schenken, ist Wertschätzung das A und O sowohl bei der Mitarbeitergewinnung als auch bei der Mitarbeiterbindung. Ohne geht gar nichts mehr.

Schwierig, denn Wertschätzung im Unternehmen ist ein süßes Gift.

 

Weiche Härte

Zunächst ist „Wertschätzung“ ein Containerwort: Jeder kann und darf hineinkippen, was immer er möchte. Eine einheitliche Definition gibt es nicht.

Trotzdem (oder deshalb) schreiben sich etliche Unternehmen die Wertschätzung groß und breit in ihr Leitbild. Auf der Homepage taucht es natürlich auch auf – inmitten von Vokabular, das ich bis dato nur von Yoga-Retreats und Kirchentagen kannte.

Weiche Worte im harten Business.

Besonders merkwürdig wirkt das bei Firmen, die eher für Dinge wie gnadenloses Ringen um den Mindestlohn und unterirdische Produktionsbedingungen bekannt sind.

Wertschätzung gehört einfach zum guten Ton –oft an der Realität vorbei einfach mal so hingeschrieben.

Wohl wegen dieser Indifferenz löst das Wort bei Managern ziemliche Ratlosigkeit aus. Sobald die Sprache auf das „neue wertschätzende Führungsverständnis“ in ihrem Unternehmen kommt, fangen sie an zu seufzen: „Wie soll das denn gehen? Ich kann doch meine Mitarbeiter nicht den ganzen Tag nur loben. Wir sind doch zum Arbeiten hier!“

Ich denke, Wertschätzung gehört überhaupt nicht in den Kontext eines Unternehmens.

 

Deal oder Dank

Ganz nüchtern betrachtet dienen Unternehmen in erster Linie einem Zweck. Dieser Zweck ist, etwas zu produzieren oder eine Dienstleistung anzubieten, um damit Umsätze und Erträge zu erwirtschaften.

Wer in einem Unternehmen arbeitet, hat vorher einen Arbeitsvertrag unterschrieben. In dem steht drin, zu welchen Bedingungen er antritt und was die Leistung ist, die von ihm erwartet wird. Für diese Leistungserbringung wird er bezahlt. Es handelt sich also um einen Deal. Von Wertschätzung und einer Dankespflicht steht da nichts.

Dieser Deal sorgt für Stabilität im Unternehmen und macht deshalb Sinn. Ein Stückchen Wertschätzung steckt übrigens per se in diesem Deal, auch wenn es anders heißt.

 

Geld und andere Ursachen

Für weit über 50 Prozent der Mitarbeiter ist die Bezahlung eine entscheidende Voraussetzung dafür, ob sie mit ihrem Job zufrieden sind oder ihn zumindest okay finden. Diese Form der Wertschätzung wünschen sich Mitarbeiter an oberster Stelle. Kurz dahinter folgen vernünftige Arbeitsbedingungen, ordentliches Arbeitsmaterial und eine diskriminierungsfreie Behandlung.

Die meisten, die von „Wertschätzung“ sprechen, meinen damit allerdings nicht diese schnöden Äußerlichkeiten. Viel zu unromantisch!

Aus meiner Sicht jedoch ist nur in diese pragmatische Form der Wertschätzung Teil des Deals. Lob und Dank dagegen sind es nicht. Aus gutem Grund.

 

Die Klatsche beim Klatschen

Manche Führungskräfte sagen ihrem Team ständig „Ihr seid toll!“ oder „Danke, danke, danke!“. Warum tun die das?

Ziemlich oft drückt sie einfach ihr schlechtes Gewissen, weil sie doch wieder

  • Alles alleine entschieden haben
  • Ihre Mitarbeiter erneut zu spät informiert haben
  • Prioritäten zum x-ten Mal kurzfristig verändert haben

Die warmen Worte sollen das Versäumnis wieder gut machen. Doch der Effekt ist ein anderer: Zuerst werden die Mitarbeiter sauer. Statt der versprochenen Veränderung bekommen sie Lobhudelei.

Auf lange Sicht passiert aber etwas anderes: Das Team wird träge. Es hat ja erlebt, dass sich sowieso nie etwas ändert.

Noch krasser ist der Effekt, wenn die zur Schau gestellte Wertschätzung im himmelschreienden Gegensatz zur Realität steht. Wie zum Beispiel das abendliche Klatschen für die Pflegekräfte während der Covid-Pandemie. So etwas wird als Zynismus empfunden und ist Gift für die Mitarbeiterzufriedenheit.

Doch selbst wenn die Rahmenbedingung sonst ganz okay sind, kann unterschiedslos verteiltes Lob toxisch wirken.

 

Desorientierung und Demotivation

Je nach Leistungsorientierung haben penetranter und flächendeckender Dauerdank von Seiten des Unternehmens auf die Mitarbeiter unterschiedlichen Folgen.

Bei dem Teil der Belegschaft, der am wenig leistungsorientierten Ende steht, führt er zu Indifferenz: Warum auf einmal anstrengen, wenn die Minimalleistung bisher ja offensichtlich ausreicht?

Am anderen Ende des Spektrums, also bei denen, die sich wirklich reinhängen und ihr Bestes geben, führt die Gießkannenbelobigung zu Demotivation. Sie fragen sich, warum sie sich weiterhin ins Zeug legen sollen, wenn der Unterschied, den sie machen, sowieso nicht gesehen wird.

Bei allen Mitarbeitern, die mit ihrer Leistungsbereitschaft irgendwo dazwischen bewegen, macht sich Orientierungslosigkeit breit: „Was ist denn nun ein lobenswertes Verhalten hier in diesem Haus? Wo wollen ‚die da oben‘ mit uns hin?“ Und weil sie keine Antwort bekommen, halten sie lieber mal die Füße still.“

Dauerlob für alle ist Wertschätzung für keinen, Sie gehen nur ein Risiko damit ein.

Zwei weitere Risiken und Nebenwirkungen von Wertschätzung hätte ich noch für Sie.

 

Der Klassenlehrereffekt

Für das erste sollten Sie wissen: Soziale Kompetenzen sind unter Managern höchst unterschiedlich ausgeprägt.

Jetzt stellen Sie sich vor, eine besonders talentierte Führungskraft führt ihr Team vor allem über ihre gute persönliche Beziehung zu allen – es läuft wunderbar. Doch nun verlässt diese Person die Position, und der Nachfolger hat das mit dem Loben nicht so drauf. Was folgt, ist der so genannte Klassenlehrereffekt.

Nach dem Wechsel des Klassenlehrers fallen die Kinder in ihrer Leistung erst einmal ab. Sie hatten sich an den Führungsstil des einen gewöhnt, vor allem, wenn der nett war. Und es dauert, bis sie sich an den nüchterneren neuen Typen gewöhnen und wieder zu alter Stärke finden.

So ein Bruch ist für die Kontinuität im Unternehmen gar nicht gut.

Das zweite Risiko entsteht, wenn strukturelle Mängel ständig für Unmut im Team sorgen. Weil die Führungskraft dieses Genörgel nicht aushält, kämpft sie mit immer neuen Dankesgesten und -gaben gegen diese Stimmung an: Sie lädt jedes Wochenende zum Essen ein, sie bringt Getränke für alle, sie tut alles, damit die Stimmung steigt. Das sorgt erst einmal für Ruhe. Aber das verhindert auch, dass sich etwas verändert. Wie groß der Handlungsbedarf ist, dringt kaum oder gar nicht bis zur Unternehmensführung vor. Die sieht deshalb keinen Anlass, Veränderungen anzustoßen. Alles bleibt wie es ist, das Leistungspotenzial des Teams wird weiterhin nicht ausgeschöpft. Auch das ist für ein Unternehmen nicht gut.

Die giftigen Wirkungen von Wertschätzung sind also offensichtlich. Dennoch steht sie hoch im Kurs – ich habe da einen Verdacht.

 

Pflastersteine

Lob und Dank sind schnelle Nothelfer: Sie kosten nichts, tun auf den ersten Blick niemandem weh und rufen keinen Widerstand hervor.

Wenn Sie nun den Eindruck bekommen haben, das sie am besten gar nicht mehr loben sollen oder für gute Stimmung sorgen müssen – so ist es nicht gemeint. Es ist wie eben wie bei jedem Heilmittel.

 

Risiken und Nebenwirkungen

Jeder Mensch hat das Bedürfnis nach persönlicher Anerkennung, selbst im Arbeitsumfeld. Der Lohn und die ordentliche Ausstattung des Arbeitsplatzes alleine – obwohl der wichtigste und größte Teil der Wertschätzung – reichen dafür nicht aus. Deshalb dürfen Unternehmen und Führungskräfte durchaus Wertschätzung ausdrücken. Nur eben mit Vorsicht, immer differenziert und im Bewusstsein der Risiken und Nebenwirkungen.

 

Ich habe Ihnen auch einen Beipackzettel für Ihren Gebrauch der Wertschätzung geschrieben. Den finden Sie hier: LINK