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2023_Q2__04_quadrat

Lauf, so schnell du kannst!“

Von der Gefahr, wenn Unternehmen Familie sein wollen

Es war in der letzten Weihnachtszeit, wir hatten ein größeres Treffen mit Familie und Freunden. Schnell bildeten sich, wie üblich, alterspezifische Grüppchen und plauderten munter. Der Nachmittag schritt fort, es wurde lustiger und lauter.

Und plötzlich hörte ich aus dem Grüppchen der 20- bis 25-Jährigen am anderen Ende des Raumes eine Stimme, die rief: „Und dann, sag’ ich dir: Lauf so schnell du kannst!“

 

Hilfe: Mensch im Mittelpunkt

Ich wurde neugierig, gesellte mich zu der Runde und hörte zu. Sie sprachen über die Unternehmen, in denen sie ihre Aushilfsjobs, ihre Werkstudentenjobs oder ersten Station hatten. Und sie bekräftigten sich gegenseitig in folgender Meinung: Wer bei einem Unternehmen landet, das sich irgendetwas umhängt, was wie „familiäre Unternehmenskultur“, „hier kannst du ganz du selbst sein“ oder „bei uns steht der Mensch im Mittelpunkt“ klingt, sollte möglichst schnell die Beine in die Hand nehmen. Das ginge ja gar nicht.

Ich gebe zu: Diese Reaktion hat mich einigermaßen überrascht. Denn tendenziell werben Unternehmen in ihren Selbstbeschreibungen immer häufiger mit genau diesen Schlagworten.

Aber –  recht haben sie, die jungen Leute.

 

Wunsch: Mehr als vereinbart

Hinter der Intention steht aus meiner Sicht letztlich der verständliche Wunsch nach mehr Effizienz /nach Erfolg im Unternehmen. Denn Mitarbeiter, die sich durch ihre Zugehörigkeit zur „Unternehmensfamilie“ persönlich verpflichtet fühlen, sind in der Regel eher bereit, der Firma über kleine und große Krisen hinwegzuhelfen. Sie gehen die Extra-Meile oder springen ein, wenn der Kollege Hilfe braucht – auch wenn davon nichts in ihrem Arbeitsvertrag steht. Und sie halten dem Unternehmen die Stange, wenn die Marktlage gerade mal schwierig und Verzicht oder Mehrarbeit angesagt ist.

Sprich: Die Firmen erhoffen sich durch eine familienähnliche Bindung den Zugriff auf eine Ressource, die über die vereinbarte Leistung, die vereinbarten „Bedingungen zur Mitgliedschaft“ hinausgeht.

Ich behaupte mal, dass das ziemlich unreflektiert passiert, denn die Medaille hat auch eine Kehrseite und die bringt für die Unternehmen zwei dicke Nachteile.

 

Kehrseite 1: Eierei

In dem Familienbild steckt das Versprechen von Harmonie und Verbindlichkeit, von Loyalität und Zugehörigkeit, von Wahrnehmung und Berücksichtigung der Bedürfnisse jedes Einzelnen.

Nun stellen Sie sich vor, in so einem Unternehmen stehen umwälzende Veränderungsprozesse an – egal ob es darum geht, einen Standort zu verlagern, eine neue Kundengruppe zu erschließen oder einen Produktionszweig zu beenden. Wahrscheinlich können die Verantwortlichen die selbst geschaffene Erwartungshaltung bei den Mitarbeitern dann nicht bedienen: Sie müssen einigen Mitarbeitern zum Beispiel sagen, dass sie ihren Job verlieren oder ungeliebte Aufgaben übernehmen müssen. Damit tun sich Führungskräfte verständlicherweise schwer. Und oft genug kommt es zu einem ewigen Herumgeeiere, was für eine gehörige Trägheit in der Umsetzung sorgt.

Auch der zweite Nachteil schlägt sich erschwerend auf Veränderungsprozesse nieder.

 

Kehrseite 2: Endlose Diskussionen

Um solche Veränderungen umzusetzen, überlegen die Verantwortlichen in Workshops gemeinsam mit den Mitarbeitern, wie das am besten gehen kann. Gedacht ist es so, dass dort Rolleninhaber mit Rolleninhabern reden – also Mitarbeiter, die gesagt haben: „Ich trete für diese Fachaufgabe an“. In „Mensch im Mittelpunkt“-Unternehmen aber reden Menschen mit Menschen – und das macht die Sache ungleich komplexer.

Da gilt es auf einmal, nicht nur fachliche Meinungen zu berücksichtigen, sondern auch die unterschiedlichen Bedürfnisse, subjektiven Erfahrungen und Abneigungen aller Art. Und die können ziemlich weit weg sein von betriebswirtschaftlichen Entscheidungen, ökonomischen Überlegungen und letztendlich auch von Liquidität, weil die Prozesse so viel länger dauern.

Die Frage ist deshalb, ob es eine gute Idee ist, sich auf diese Weise zusätzliche Komplexität zu schaffen.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich will selbstverständlich nicht sagen, dass menschliche Bedürfnisse und Emotionen in Ihrem Unternehmen nichts zu suchen haben. Sie sollten nur im Auge zu behalten, zu welchem Zweck Unternehmen grundsätzlich antreten.

 

Deal: Nicht mehr?

Denn anders als eine Familie ist ein Unternehmen zuallererst eine Zweckgemeinschaft. Hier gibt es etwas zu tun, was einer allein nicht hinkriegt. Das oberste Ziel ist, den Ball gemeinsam hinter die Linie zu kriegen – und nicht, dass sich hier jeder authentisch als Mensch zeigen kann.

Um dieses Ziel zu erreichen, wird ermittelt, welche Tätigkeiten zu erledigen sind, es werden die Rollen dafür geschaffen. Zwischen demjenigen, der diese Rolle anbietet, und demjenigen, der sagt „Mache ich“, entsteht ein Deal. Und für beide ist ein Arbeitsvertrag eine praktische Sache: Darin wird das Tauschgeschäft präzise beschrieben, beide können sich darauf berufen.

Der „We are family“-Gedanke hebelt den Arbeitsvertrag jedoch ein Stück weit aus, in dem er andere Prioritäten ins Spiel bringt – die mit Trägheit und Komplexität bezahlt werden. Dieser Gefahr sollten Sie sich also bewusst sein, wenn Sie den Impuls verspüren, solche Bestrebungen in Ihrem Unternehmen zu fördern.

Aber was machen Sie stattdessen, wenn Sie sich wünschen, dass Ihre Mitarbeiter „mit mehr Leidenschaft“ arbeiten oder „mehr mitdenken“ oder „unternehmerischer handeln“? Ich empfehle Ihnen da eine andere Maßnahme.

 

Mehr: Von wem oder was?

Fragen Sie sich selbst: Was steckt hinter Ihrem Wunsch? Was lässt Sie denken, dass Sie mehr von Ihren Mitarbeitern bekommen müssen, als Sie im Arbeitsvertrag abbilden können? Kann es sein, dass in Ihrer Organisation etwas nicht stimmt? Kann es sein, dass einzelne Personen kompensieren müssen, dass Sie an der einen oder anderen Stelle strukturelle Schwächen haben?

Wenn zum Beispiel der eine Meister ständig seine Beliebtheit in die Waagschale werfen muss, um die Dienstpläne für die Nachtschicht vollzukriegen: Kann es sein, dass die Verantwortung für diese Dienstpläne nicht klar verteilt ist? Oder wenn Sie existenziell von maximalem Engagement von einzelnen Individuen im Vertrieb abhängig sind, weil die „einen so guten Draht zum Kunden“ haben: Kann es sein, dass Sie noch keinen Prozess haben, mit dem Sie sich systematisch die Entwicklung von Märkten und Kunden anschauen?

Können Sie solche Missstände strukturell besser regeln, haben Sie mehr davon als von einer kuscheligen 37-Grad-Atmosphäre. Und nicht nur Sie, sondern auch Ihre Mitarbeiter. Denn ich glaube, erkannt zu haben, warum die jungen Leute bei meinem Weihnachtstreffen so einhellig der Meinung waren: ‚Solche Unternehmen meiden wir lieber‘.

 

Leistung: Eine Frage der Moral?

Der familiäre Anstrich kann auf fast hinterhältige Weise erpressbar machen.

Denn einerseits kommt das Versprechen einer „familiären Atmosphäre“ sehr schön daher, indem es an das menschliche Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Anerkennung appelliert. Auf der anderen Seite gehen Mitarbeiter und Unternehmen auf diese Weise eine – über den Arbeitsvertrag hinausgehende – „menschliche“ Beziehung ein. Liefert der Mitarbeiter in der Arbeit dann nicht das, was von ihm erwartet wird, hat er nicht nur eine Leistung nicht erbracht, sondern er hat menschlich enttäuscht. Das will keiner!

Keiner will ein „Kollegenschwein“ sein oder das Gefühl haben, jemanden im Stich gelassen zu haben. Doch mit der Nicht-Leistung ist in diesem Fall automatisch ein moralisches Defizit verbunden.

Auf dieses Dilemma haben viele (und nicht nur junge) Arbeitskräfte keine Lust. Zurecht. Sie empfinden es im Gegenteil als sehr entlastend, wenn sie wissen, dass von ihnen einfach nur erwartet wird, dass sie ihre Arbeit ordentlich machen – nicht weniger, aber auch nicht mehr.

Vielleicht lassen Sie sich auch das durch den Kopf gehen, bevor Sie in der Selbstbeschreibung Ihres Unternehmens den Satz mit dem „Mensch im Mittelpunkt“ ergänzen lassen.